Martha Freud

Freud Paar
Sigmund Freud, Martha Bernays -- Verlobungsfoto

Die Hamburgerin Martha Freud, geb. Bernays, Ehefrau des Sigmund Freud, steht im Mittelpunkt des Aufsatzes

'...ihm die Misere des Alltags fernzuhalten.' Martha Freud -- ein Lebensbild

  • Die erste geschlossene Darstellung über Herkunft und Wirken der Martha Freud.
  • Was viele nicht wissen: Die Ehefrau Sigmund Freuds hat die Psychoanalyse 70 Jahre lang -- von Anbeginn -- begleitet und war stets mit der "Analyse-Szene" in Kontakt, u. a. mit "Anna O." und Lou Andreas-Salomé. 
  • Was auch nicht allzu bekannt ist: Sie wurde geboren in Hamburg, war Enkelin des Hamburger Oberrabbiners Isaac Ben Jacob Bernays und hat in Wandsbek geheiratet.
  • Die Mutter von 6 Kindern, darunter Anna Freud, lebte bis auf wenige Jahre zeitlebens auch mit ihrer Schwester Minna Bernays zusammen.
  • Das Trio der Elterngeneration emigrierte gemeinsam aus Wien nach London, wo Martha Freud ihren Ehemann und ihre Schwester überlebte. 
  • Der Aufsatz ist 1991 im Begleitband zur Ausstellung "400 Jahre Juden in Hamburg" erschienen. Die Ausstellung wurde im Museum für Hamburgische Geschichte gezeigt.

Der Aufsatz:
Martha Freud und Anna O.
Im Juli 1883 schrieb Sigmund Freud seiner Verlobten Martha Bernays:
»... dann kam ein langes medizinisches Gespräch über ... Nervenkrankheiten und merkwürdige Fälle, auch Deine Freundin Bertha Pappenheim kam wieder auf's Tapet, und dann wurden wir intim persönlich und sehr vertraut, und er (Breuer) erzählte mir manches, 'was ich erst erzählen soll, wenn ich mit Martha verheiratet bin', von Frau und Kindern ... «.
In dieser Passage aus einem der zahlreichen »Brautbriefe«, die der in Wien lebende Arzt Dr. Sigmund Freud an seine Verlobte in Wandsbek geschrieben hat, kommen Biographie-relevante Aspekte zum Tragen. Das Leben der Martha Freud, der Ehefrau des Begründers der Psychoanalyse, nachzeichnen zu wollen, bedeutet, sie in schriftlichen Darstellungen der »anderen« aufzuspüren: in der ausgedehnten (Auswahl der) Korrespondenz Sigmund Freuds, in den Biographien über ihn, aber auch über seine Tochter Anna sowie in den Abhandlungen seiner Kollegen, Kinder und Enkel. Originäre Spuren der Martha Bernays-Freud -- ihre Briefe etwa -- sind nicht veröffentlicht worden, möglicherweise nicht mehr vorhanden. 
So bleibt die Suche nach Martha Freud an ihren berühmten Ehemann gebunden -- und folgt gleichsam einem Sekundar-Muster.
Der Brief-Ausschnitt gibt exemplarisch Einblick in das Verhältnis des Paares: Freud ließ seine Verlobte an seinem Berufs- und Innenleben (noch) intensiv teilnehmen - was auf das spätere Eheleben nicht mehr zutraf.
Freud erwähnte Bertha Pappenheim nicht nur, weil sie Marthas Freundin war, sondern weil er von ihrem Krankheitsbild fasziniert war. Bertha Pappenheim war »Anna O.«, die Patientin, die Breuer wegen schwerer psychosomatischer Störungen behandelt hatte. »Anna O.« gilt als der Fall, der die Psychoanalyse begründete. Fraglich bleibt, ob Sigmund Freud mit dem Gespräch -- in dem es vermutlich um einen hysterischen Geburtsvorgang ging -- wirklich bis zur Hochzeit gewartet hat. Als begründet kann jedoch angenommen werden, daß Martha Bernays um die Identität der »Anna O.« wußte. Das läßt den Schluß zu, daß sie die Entstehung der Psychoanalyse begleitet hat, ein Aspekt, der bisher kaum beachtet wurde.
Martha Bernays und Bertha Pappenheim stammten aus orthodoxen jüdischen Elternhäusern. Beide wurden früh mit dem Tod naher Angehöriger konfrontiert. Marthas Lieblingsbruder Isaac starb, als sie elf Jahre alt war, sieben Jahre später starb ihr Vater. Bertha verlor ihre Schwestern und mit einundzwanzig Jahren ihren Vater. Die Familie Pappenheim hatte nach dem Tode ihres Versorgers keine Not zu leiden, während Marthas Vater seine Familie unversorgt zurückließ.
Trotz ähnlicher Ausgangsbedingungen unterschieden sich die Lebenswege der beiden »höheren Töchter« des jüdischen Bürgertums erheblich. Während die Wienerin Bertha Pappenheim nach ihrer Gesundung den feministischen Kampf gegen gesellschaftliche Mißstände wie Prostitution und Mädchenhandel führte, den »Jüdische(n) Frauenbund« gründete, unverheiratet und kinderlos blieb und durch ihre sozialen Aktivitäten berühmt wurde, ging die gebürtige Hamburgerin Martha Freud den traditionellen Weg der Ehefrau, Mutter und Hausfrau an der Seite ihres berühmten Ehemannes, ohne für sich einen vom Familienleben unabhängigen Bereich zu beanspruchen. 

Die Herkunftsfamilie
Martha Bernays stammte aus einer angesehenen Hamburger Familie. Ihr Großvater, Isaac Ben Jacob Bernays, kam 1821 aus dem Raum Mainz nach Hamburg, wo er zum Oberrabbiner der Deutsch-Israelitischen Gemeinde gewählt wurde. Er war einer der ersten deutschen Rabbiner, die neben dem Talmud-Studium eine Universität besucht und Philosophie studiert hatten. 
Bernays führte in Hamburg den Titel »Chacham« (Weiser), nach der Tradition der sephardischen Juden, um sich von den orthodoxen, aschkenasischen Rabbinern abzugrenzen. Er reformierte den Gottesdienst und den Unterricht an der Talmud-Tora-Schule, blieb aber dem orthodoxen Judentum verbunden und wurde zum Wegbereiter der Neu-Orthodoxie. Ein Jahr nach seinem Amtsantritt hatte er die 18jährige, in Hannover geborene Sara Lea Berend, Tochter eines Hofagenten, geheiratet, mit der er sieben Kinder hatte. 
1826 wurde Berman Bernays, Marthas Vater, geboren. Die Söhne Jacob und Michael Bernays schlugen die akademische Laufbahn ein und wurden zu Professoren ernannt. Jacob Bernays starb 1881 unverheiratet. Sein Vermögen fiel u.a. an Martha Bernays und ihre Geschwister. Wer, wie Marthas Vater, den Risiken einer selbständigen Existenz ausgesetzt war, mußte nicht automatisch Erfolg haben.
Berman Isaac Bernays hatte nach neunjähriger Verlobungszeit 1854 Egla (Emmeline) Philipp geheiratet, Tochter des hamburgischen Kaufmannes Fabian Aron Philipp und seiner Ehefrau Minna, geb. Ruhen. Berman Bernays betrieb eine »Leinen, Stickereien- und Weisswaren-Handlung« in der Straße Alter Wall 2, Ecke Schleusenbrücke in der Hamburger Altstadt.
Die Ehe war vielfältigen Belastungen unterworfen. Der Sohn Isaac war 1855 mit einem schweren Hüftleiden geboren worden, drei weitere Kinder starben als Säuglinge.

1860 wurde Marthas Bruder Eli geboren. Im gleichen Jahr gab Berman Bernays den Textilhandel auf und schloß mit der Firma Haasenstein &Vogler in Hamburg einen Vertrag über Annoncen-Geschäfte. Das Büro befand sich in der Fuhlentwiete 128 in der Hamburger Neustadt, die Wohnung in der Straße »b[ei] d[enl Hütten 61«. Hier ist am 26. Juli 1861 Martha Bernays -und vier Jahre später ihre Schwester Minna - geboren worden.
Bild entfernt.Oberrabiner Isaac Bernays 
Hamburgs Oberrabbiner Isaac Ben Jacob Bernays, Marthas Großvater

Marthas Geburt muß in eine Phase größter wirtschaftlicher Schwierigkeiten gefallen sein. So konnte die Familie ihre Beiträge an die Deutsch-Israelitische Gemeinde nicht mehr bezahlen. Steuerrückstände bei der jüdischen Gemeinde mögen auch der Grund dafür gewesen sein, daß die Kinder erst Jahre später ins Geburtsregister eingetragen wurden.
Berman Bernays tat vermutlich alles, um aus der Misere herauszukommen, verschärfte sie jedoch noch. Um seine Einkünfte aufzubessern, hatte er begonnen, mit Wertpapieren zu handeln. Zwei äußere Anzeichen lassen auf eine vorübergehende Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse im Jahre 1865 schließen: der Umzug in eine Mietwohnung an der Mühlenstraße in der Neustadt, wo auch zwei Dienstboten beschäftigt werden konnten, sowie die Nachentrichtung der ausstehenden Jahressteuerzahlungen an die jüdische Gemeinde. 
Die Phase der Prosperität dauerte jedoch nicht lange. Bernays war durch den Wertpapierhandel mehr und mehr in finanzielle Schwierigkeiten geraten und mußte schließlich im Jahre 1867 seine Insolvenz erklären. 1868 wurde er wegen betrügerischen Bankrotts zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

Übersiedlung nach Wien
Nach seiner Entlassung nahm er das Angebot seiner früheren Firma an, in deren Niederlassung in Wien zu arbeiten, wohin er 1869 mit seiner Familie zog. Martha war zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt. Sie erinnerte sich später an die Tränen ihrer Mutter, die aus Trauer über die bevorstehende Abreise aus Hamburg auf den heißen Küchenherd getropft waren.
In Wien konsolidierte sich die wirtschaftliche Lage der Familie. Berman Bernays konnte seine Tätigkeit bald gegen die vermutlich lukrativere Stellung als Sekretär des Wiener Nationalökonomen, Staatsrechtlers und Universitätsprofessors Lorenz von Stein eintauschen. 1879 erlag Berman Bernays einem Herzschlag. Die Einkünfte des 19jährigen EIi Bernays sowie die finanzielle Unterstützung durch Berman Bernays' Geschwister sicherten der Familie den Lebensunterhalt.
Martha Bernays hatte eine sorgfältige Erziehung genossen, eine »höhere Töchterschule« besucht und sich dort - wie allgemein üblich - mit Geschichte, Geographie, Literatur, fremdsprachlicher Konversation, Handarbeiten, Zeichnen, Gesang und Gesellschaftstanz beschäftigt. Die Erziehung sollte auf die Rolle der Hausfrau bzw. Dame der Gesellschaft vorbereiten. Nicht gefragt war die geistige Partnerin des Mannes.
Die Einschätzung des Freud-Biographen Jones, Martha Freud wäre »intelligent, ohne daß man sie eine Intellektuelle nennen könnte«, deutet darauf hin, daß sie nicht über das durch ihre Erziehung geprägte Rollenverhalten hinausgegangen ist.
Nach Abschluß der Ausbildung verbrachten die »höheren Töchter« -- auch Martha und Minna Bernays - die Zeit mit Sticken, Lesen, Theater- und Konzertbesuchen sowie dem Besuch von Verwandten und Freundinnen -- und sie warteten auf den geeigneten Ehemann. 

Verlobungszeit
Für Martha, die als eine Bernays zwar gesellschaftliches Ansehen, aber kein Geld hatte, schien es naheliegend, einen wohlhabenden Mann zu heiraten. So war ihre Familie anfangs alles andere als erfreut darüber, daß der mittellose, medizinische Wissenschaftler Dr. Sigmund Freud, der auch noch die Religion strikt ablehnte, sich für Martha interessierte. An Verehrern mangelte es Martha ohnehin nicht. Ihr gewinnendes Wesen und ihr ansprechendes Äußeres - sie war schlank, ziemlich blaß und eher klein - machte sie für Männer sehr anziehend. Gleichwohl hatte sie nach wenigen Verlobungswochen schon an ihrem Aussehen etwas auszusetzen und dies auch Freud mitgeteilt. Er antwortete »mit der ihm eigenen Aufrichtigkeit (...):
Ich weiß wohl, Du bist nicht schön im Sinne der Maler oder Bildhauer (... ) Ich meinte, wieviel von dem Zauber Deines Wesens sich in Deinem Gesichtchen und in Deiner Gestalt ausdrückt, wieviel an Dir zu sehen ist, was nur auf das Gute, Edle und Vernünftige in der Seele meines Marthchen zu deuten ist.«
Freud bewies bei der Wahl seiner Frau eine solide Orientierung. Er brauchte keine strahlende Schönheit, sondern eine Frau, für die er sorgen konnte, die aber in erster Linie für ihn sorgte. Freud bevorzugte den sanften, weiblichen Typ -- und Martha Bernays versprach, seine Erwartungen zu erfüllen.
An einem Abend im April 1882 bei der Familie Freud: »... ein fröhliches junges Mädchen (Martha), das am Tisch saß und heiter plaudernd einen Apfel schälte, erregte Freuds Aufmerksamkeit, und zur allgemeinen Überraschung setzte er sich dazu«. Jener erste Blick hatte Freuds Schicksal besiegelt. 

Die Verbindung, die so romantisch begonnen hatte, erwies sich jedoch auf den zweiten Blick zunächst als problematisch. Wenn auch Jones betonte, daß die Phasen ungetrübten Glücks während der Verlobungszeit weit überwogen hätten, so war diese Zeit auch durch heftige Meinungsverschiedenheiten gekennzeichnet. Hauptgrund für die lange Verlobungszeit von über vier Jahren (Juni 1882 -September 1886 ) war die Armut beider Familien. Martha hatte keine Mitgift zu erwarten; Freud fehlte die berufliche Grundlage zur Existenz- und Familiengründung, zumal er noch zum Lebensunterhalt seiner Familie beitrug.
Die Konflikte, die das Paar während der Verlobungszeit austrug, beruhten auf den unterschiedlichen Auffassungen der Verlobten über Freundschaften, Familienverbundenheit und religiöse Fragen, sie wurden ausgelöst durch Freuds Eifersucht, sein Besitzdenken, seinen Ausschließlichkeitsanspruch, seinen Durchsetzungwillen in vielen Fragen, die seine Braut und ihre zukünftige gemeinsame Lebensgestaltung betrafen: Freud brach den Streit vom Zaun und machte klar, daß er der Herr im Haus zu sein beabsichtigte.

Schon während der ersten Verlobungsphase beanspruchte er, in Marthas Leben der Einzige zu sein und beklagte sich noch 1884 rückblickend über die damalige Konkurrenz: »Ich fand ... jeden Platz in Dir besetzt, und Du warst spröde und hart, und ich hatte keine Macht über Dich ... «.

Der 17. Juni 1882 war der Tag, an dem sie sich als heimlich verlobt betrachteten. Zwei Tage später reiste Martha nach Wandsbek ab, um den Sommer bei ihrem Onkel Elias Philipp zu verbringen. Diese Reise war offenbar schon länger geplant und kann nicht als »Entführung« Marthas durch ihre Mutter -- um sie von Freud zu trennen -- angesehen werden.
Die endgültige Übersiedlung nach Wandsbek erfolgte erst ein Jahr später. 

Freuds Rivalen I
Die Verlobten korrespondierten auch über ein heute noch aktuelles Thema: die Frauenemanzipation. Freud stellte klar:
»Wir dürfen ziemlich einig darin sein, daß das Zusammenhalten des Haushaltes und die Pflege der Kinder einen ganzen Menschen erfordert und fast jeden Erwerb ausschließt, auch dann, wenn vereinfachte Bedingungen (..) der Frau [viele Arbeiten] abnehmen (...). Soll ich mir mein zartes, liebes Mädchen (..) als Konkurrenten denken ...?« 

Freuds Familien- und Frauen-Ideal war konservativ geprägt. Er suchte die treusorgende Ehefrau und bekam sie auch. Darüber hinaus sollte Martha eine Hausverwalterin und Köchin, ein teurer Freund und ein süßes Liebchen sein. Freud registrierte schon während der Verlobungszeit genau, wenn Martha von seinen Vorstellungen abwich. Nachdem sie von einem Ausflug mit Minna berichtet hatte, schrieb er zurück: »Sieh da Lübeck! Soll man sich das gefallen lassen? Zwei (...) Mädchen (...) reisen! Das ist ja Auflehnung gegen die männliche Prärogative, aber Beginn der Erkenntnis, daß man ohne Mann nicht allein zu sein braucht ...« Scherz und Schmerz lagen bei Freud dicht beieinander. Er befand sich offenbar im Zwiespalt der Gefühle; sollte er Marthas Selbständigkeit bewundern oder eher fürchten? Mit gemischten Gefühlen bewertete er auch ihren Briefstil und ihre Urteilsfähigkeit:
»... du schreibst so treffend und so klug, daß mir ein klein wenig vor dir graut. (...) Da haben wirs wieder, wie rasch die Frau den Mann überholt. Nun ich verliere nichts dabei«. Bei dieser ängstlich-trotzigen Einstellung ihres Verlobten hatte Martha eine Förderung ihrer Fähigkeiten wohl kaum zu erwarten.
Aber Freud konnte auch zum kopfschüttelnden Moral-Apostel werden: »So absolut gutmütig sein (... ) ist wirklich keine Tugend mehr. Ich bin nicht prüde und achte Dich nur mehr, daß Du es auch nicht bist, aber wie Du nach allem was mit Elise geschehen ist ( ...) ihr die Ehre Deines Besuches (...) geben [konntest], geht mir nicht ein«.
Marthas Freundin Elise hatte ein uneheliches Kind zur Welt gebracht und war damit gesellschaftlich erledigt. Nach Freuds Auffassung wäre es wohl ihre Pflicht gewesen, sich von ihrer Freundin fernzuhalten. Bei Martha stand aber an erster Stelle der Mensch in einer konkreten Situation -- dann kam die Konvention. Womit nicht gemeint ist, daß sie unkonventionell gewesen wäre. Sie trat den ihr nahestehenden Menschen jedoch gutmütig und loyal entgegen und versuchte, ihnen gerecht zu werden und -- vermutlich als Einfluß ihrer traditionellen Erziehung -- auch, es ihnen Recht zu machen.
Mit diesem Wesenszug zog sie sich wiederum den Ärger ihres Verlobten zu, der ihre Haltung, Konflikte zu vermeiden, als Charakterschwäche anprangerte. Möglicherweise wurde Freud erst später klar, daß Marthas »diplomatisches Geschick« eine wichtige Voraussetzung für das Zustandekommen wie für den friedlichen Verlauf ihrer Ehe darstellte. Nur weil Martha friedfertig, loyal, verständnisvoll war und sich zurücknahm, konnte Freud das Eheleben nach seinen Bedürfnissen gestalten. 

Bereits eine Woche nach der Verlobung, als Martha sich in Wandsbek aufhielt, wurde Freuds Eifersucht geweckt. Er erfuhr nicht nur, daß Marthas Hamburger Vetter, der Komponist Max Mayer, ihr nahegestanden hatte, sondern, daß sie von einigen Liedern, die Max komponiert und gesungen hatte, begeistert gewesen war. Einen weiteren Konkurrenten sah er in seinem engen Freund, Fritz Wahle, zu dem Martha ein freundschaftliches Verhältnis pflegte, das sie nicht aufzugeben gedachte. Freud ließ jedoch solange nicht locker, bis sie den Kontakt abbrach. 
Freud brauchte den Kampf -- und den Sieg. 

Freuds Rivalen II 
Da er Atheist war und Martha aus orthodoxem Elternhaus stammte, stellte sich der nächste Konflikt bald ein. Marthas Mutter, eine intelligente, gebildete Frau, trug noch den »Scheitel«, die traditionelle Kopfbedeckung jüdischer Frauen. In der Familie Bernays wurden die Speisegesetze und die Sabbatruhe eingehalten sowie die jüdischen Feste begangen. 
Martha nahm auf die religiösen Gefühle ihrer Mutter Rücksicht -- und teilte sie als gehorsame Tochter vermutlich auch. Darüber ärgerte sich Freud, er warf ihr vor, sie sei »schwach«, weil sie sich ihrer Mutter nicht widersetzte. Als Martha krank war, riet er ihr gut zu essen, »wenn nötig heimlich«, womit er die Umgehung der Speisegesetze meinte. Bereits zwei Wochen nach der Verlobung hatte er ihr prophezeit, »was für eine Heidin aus Martha noch werden wird« So geschah es auch, ganz in seinem Sinne.

Die Hochzeitszeremonie nach jüdischem Ritus kam nur zustande, weil die österreichischen Gesetze dies noch vorschrieben. Am ersten Sabbat nach der Hochzeit verbot Freud seiner Frau, die Sabbat-Kerzen anzuzünden, was sie als besonders schmerzlich empfunden haben soll. Es gab fortan Weihnachtsgeschenke, und Freud schickte seinen Freunden Grüße zum christlichen Neujahrsfest. Ihre Kinder haben nie eine Synagoge besucht noch Religionsunterricht erhalten. Auch die jüdischen Speisegesetze kamen nicht mehr zum Tragen. Erst nach dem Tode Freuds wandte sich Martha Freud wieder der Religion zu.

Emmeline Bernays
Der Streitpunkt Religion war während der Verlobungszeit eng mit Freuds Abneigung gegen Marthas Mutter verknüpft. Was ihn an Emmeline Bernays --neben ihrer Religiosität -- störte, waren ihre Scheu vor Unannehmlichkeiten und ihr Durchsetzungsvermögen, überhaupt ihre zu »männliche« Einstellung und ihr Despotismus in Familienfragen.

Nachdem sie nach dem Tode ihres Mannes die Vormundschaft für ihre damals noch unmündigen Kinder übernommen hatte, blieb sie auch nach deren Volljährigkeit das Oberhaupt der Familie. Der innere Motor für Freuds Feindseligkeiten gegen Marthas Mutter dürfte jedoch in engem Zusammenhang mit seinem Ausschließlichkeitsanspruch gestanden haben.

Daß Martha ihrer Mutter gegenüber loyal war, paßte Freud nicht. Er verlangte, daß sie sich stets auf seine Seite stellte, bis hin zum Bruch mit ihrer Familie. In diesem Punkt widerstand Martha jedoch ihrem Verlobten und zog hier unweigerlich eine Grenze, an die Freud sich schließlich halten mußte.
Daß Martha unter den schwierigen Verhältnissen in Wien, auch unter den unbefriedigenden Begleitumständen, unter denen sich die Verlobten hatten treffen müssen, litt, hatte Freud schon vermutet und Marthas Blässe und ihre dunklen Schatten unter den Augen als »Angstneurose verlobter Paare« gedeutet. Darüber hinaus dürfte Marthas schlechtes Aussehen Ausdruck ihrer inneren Konflikte gewesen sein, hervorgerufen durch die divergierenden Interessen und Forderungen ihrer Mutter und ihres Verlobten. 

Trennungsschmerz und Geduldsproben

Die Übersiedlung nach Wandsbek im Sommer 1883, die Emmeline Bernays durchsetzte, obwohl ihre beiden Töchter in Wien verlobt waren nahm Freud zum Anlaß, seiner Braut vorzuwerfen, nicht genug dagegen protestiert zu haben. Zudem argwöhnte er, daß für sie der Wille ihrer Mutter maßgeblicher gewesen wäre als sein Bedürfnis, sie in Wien bei sich zu haben. Denn Sigmund Freud brauchte Martha, hatte sie doch ohnehin sein Selbstbewußtsein von Anbeginn an aufgebaut, »den Glauben an meinen eigenen Wert erhöht und neue Hoffnung und Arbeitskraft mir geschenkt« und auch längst Freuds beruflichem Werdegang »Ziel und Richtung« gegeben. Wenige Monate nach der Verlobung hatte er seine wissenschaftliche Forschungstätigkeit aufgegeben und war Aspirant am Allgemeinen Krankenhaus in Wien geworden, um die erforderlichen Voraussetzungen für seine Niederlassung als Arzt -- und Familiengründer -- zu erbringen.

Besonders schmerzlich empfand es Freud, daß seine Geldmittel meist nicht dazu ausreichten, Martha in Wandsbek besuchen, geschweige denn, ihr ein Geschenk machen zu können. Erst 1885 konnte er ihr ein silbernes Armband schenken.

Viel besser war dagegen Eli Bernays, Marthas Bruder, gestellt. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann und hatte 1883 Freuds älteste Schwester Anna geheiratet. Wenige Monate vor Freuds Hochzeit löste Eli Bernays die schwerste Krise der Verlobungszeit aus, als Freud herausfand, daß Marthas Geld von ihrem Bruder verwaltet und angelegt worden war. Dieses Verfahren war anläßlich der Erbschaft aus dem Nachlaß von Marthas Onkel Jacob Bernays, aus dem die drei Geschwister insgesamt etwas über 4.000 Mark erhalten hatten, vereinbart worden. Eli hatte die Summe gemeinschaftlich in sogenannten »Loosen«, Anteilen an Kommunalobligationen, angelegt. Möglicherweise war Freud darüber nicht informiert gewesen. Eli gab nun an, die Papiere nicht sofort verkaufen zu können. Freud glaubte ihm nicht, befürchtete das Schlimmste, beschuldigte Eli, den Betrag für sich verbraucht zu haben und befahl Martha, das Geld sofort zurückzuverlangen und mit dem Bruder zu brechen. Martha, die ein Vertrauensverhältnis zu ihrem Bruder hatte, weigerte sich jedoch. Ein Einlenken schien nun von keiner Seite aus mehr möglich, die Hochzeit und die Verbindung insgesamt auf dem Spiel zu stehen. Schließlich setzte Freud sich mit Marthas Bruder auseinander, der daraufhin zahlte. Freud hatte vermutlich auch deshalb so heftig reagiert, weil er Eli Bernays' Lebenswandel mißbilligte und befürchtete, daß sich wiederholen könnte, was dessen Vater widerfahren war: die Insolvenz.

Marthas unerschütterliches Durchhaltevermögen während der langen Verlobungszeit basierte sicherlich auf ihrem tiefen Gefühl, ihrer Liebe und Bewunderung für Sigmund Freud. Zudem wiesen die Verlobten -- bei allen anfänglichen Meinungsverschiedenheiten -- viele Gemeinsamkeiten auf, die sich aus der Stellung ihrer Familien und aus ihrem Ziel, eine solide bürgerliche Existenz aufzubauen, ergaben.
Darüber hinaus hatte Freud (Frauen-) Faszinierendes zu bieten. So signalisierte er, daß er Marthas Stärke zur Stabilisierung brauchte, aber auch, daß er kämpfen konnte. Freud war schon in der Schule ein »Oppositionsmann«, ein Rebell gewesen. Daß Freud seine Interessen vertreten würde, hatte er seiner Braut in seinen eifersüchtigen Attacken gegen ihre Familie und ihre Freunde gezeigt. Daß er ein »aufgeklärter«, liberaler Protestler war, machte seine kompromißlose Ablehnung der Religion deutlich, die sich auch gegen die orthodoxe jüdische Elterngeneration richtete, Freud war -- auch als engagierter Naturwissenschaftler -- ein moderner Mann. Ich vermute, Martha Bernays sprachen diese Eigenschaften an. Daß er sie brauchte, rührte an ihre fürsorglichen und mütterlichen Züge, mit seinen Kämpfen dürfte er in mancherlei Hinsicht auch ihre Interessen vertreten sowie ihr das Gefühl gegeben haben, beschützt zu werden. Bei allen Schwierigkeiten der Verlobungszeit hatte Martha doch auch die Erfahrung gemacht, daß sie sich mit ihm arrangieren konnte. Daß Hunde, die bellen, nicht beißen, hatte Freud ohnehin schon für sich selbst erkannt. Den soliden bürgerlichen Rahmen würde er jedenfalls nicht sprengen, er strebte ihn ja geradezu an.

Auch in der Wahl seiner Braut könnten sich Züge unbewußten Protestes gezeigt haben. Freud, der aus Mähren stammte und Wien nicht mochte und dort später auch wenig Beachtung fand, heiratete eine ganz unwienerische Frau; eine etwas spröde, strenge, Fremden gegenüber zurückhaltende Hamburgerin, die zeitlebens ihr Hochdeutsch beibehielt, obwohl sie oft nicht verstanden wurde. Sogar Freud hatte anfangs seine Schwierigkeiten: »Tut mir leid, Dein Hamburgisch nicht verstanden zu haben«, schrieb er ihr eines Tages. Neben ihrer Sprache stärkte Martha Freud das deutsche Element in der Familie durch ihre Pünktlichkeit, Disziplin und emotionale Kontrolliertheit und traf damit vermutlich auf die Zustimmung Freuds.
Der Psychoanalytiker Hans Sachs hatte beobachtet: »Weder sie noch ihre Schwester [Minna] [machten ...] jemals die leiseste Konzession an den Geist und Lebensstil von Wien; nach einem Aufenthalt von 50 Jahren in Wien sprachen sie das »reinste« Deutsch, für das Hamburg berühmt ist. In Wien hingegen [ ...] wirkten die beiden Damen [ ...] als Fremde [ ...] Das wurde nicht nur durch ihre Sprache betont, sondern [ ...] durch manche kleine Eigenheiten und Gewohnheiten, so daß der Haushalt (...] exterritorial wirkte, etwa wie eine Insel ... «.

Freud blieb schließlich der Rebell. Indem er die anfangs angefeindete und umstrittene Psychoanalyse begründete, riskierte er, sich mit der Ärzteschaft und dem Establishment Wiens zu überwerfen und gesellschaftlich geächtet zu werden.

Daß Freuds Lebenswerk, die Psychoanalyse, schließlich seiner Frau fremd blieb, war zwar auch auf deren revolutionäre Inhalte, in erster Linie jedoch auf die traditionelle Trennung zwischen den Arbeits- und Interessengebieten von Mann und Frau zurückzuführen. Martha Freuds Bereich waren die Familienpflichten. Blieb ihr noch Zeit für andere Tätigkeiten, dann widmete sie sich der Literatur und den Handarbeiten. 

Hochzeit
Die "Vermälten"
Am Montag, den 13. September 1886, war es endlich soweit. Sigmund Freud und Martha Bernays heirateten im Rathaus an der Königstraße in Wandsbek. Der Standesbeamte wunderte sich, daß die junge Frau ohne zu zögern mit ihrem neuen Familiennamen unterschrieb. Das Ende der Verlobungszeit hatte sich bereits abgezeichnet, als Freud nach seinem Pariser Studienaufenthalt in Wien eine Praxis als Nervenarzt eröffnet hatte.
Der Hochzeitstermin konnte aber erst festgesetzt werden, nachdem Geldgeschenke von Verwandten der Braut sowie großzügige Anleihen und Geschenke reicher Freunde eingetroffen waren. 
Seine heftige Abneigung gegen die jüdische Hochzeitszeremonie nützte Sigmund Freud nichts, und Martha Bernays praktizierte zum letzten Mal ihre Religion; das Paar wurde am 14. September 1886 unter der Chuppa, dem traditionellen Hochzeitsbaldachin, vom Wandsbeker Rabbiner Dr. David Hanover getraut -- weil die österreichischen Gesetze es so vorschrieben. Marthas Onkel, Elias Philipp, hatte Freud noch in der Nacht vor der Zeremonie die Hochzeitsgebete gelehrt. Die religiöse Trauung fand ganz im Sinne der jüdischen Tradition an einem Dienstag im Hause der Brautmutter in der Hamburger Str. 38 in Wandsbek statt. 
Am Hochzeitsessen in Hirschel's Hotel in der Wexstraße in Hamburg nahmen vierzehn Personen teil. Ein Hochzeits-Gedeck kostete 6 Mark und bestand aus: Gemüsesuppe, Pastete, Fischsalat, Rinderfilet, Erbsen und Spargel als Beilagen sowie Gänsebraten und Kompott. Auf den Serviettenringen befand sich das Hochzeitsfoto des Paares.

Nach Beendigung der Hochzeitsreise in Lübeck und Travemünde, traf das Ehepaar am 1. Oktober 1886 in der Wiener Maria-Theresien-Str. 8 ein. Martha war 25, Sigmund Freud 30 Jahre alt. Eine über fünfzigjährige harmonische Ehe begann. Zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Eheleuten kam es kaum. Martha hatte während der Verlobungszeit ihre Lektion gelernt, so daß Sigmund Freuds Bedürfnisse in der Ehe stets Vorrang hatten. Sie erfüllte die Rollenerwartungen nahezu vollkommen, nach denen die Ehefrau den Mann nicht langweilen und lähmen sollte, sondern »mit Verständnis seiner Interessen und der Wärme des Gefühls für denselben zur Seite stehe [möge]«. Die verständnisvolle und perfekte Hausfrau und Mutter Martha Freud belästigte ihren Mann nicht unnötig mit ihren Problemen. Sie akzeptierte die traditionelle Rollentrennung und nahm sich -- wenn die Bereiche sich einmal berührten, ganz zurück, wie schon Freud nach der Geburt ihres ersten Kindes seiner Schwiegermutter und Schwägerin nach Wandsbek berichtet hatte:

»Sie war so brav, so tapfer und liebenswürdig die ganze Zeit über. Nicht ein Zeichen von Ungeduld und übler Laune, und wenn sie schreien mußte, entschuldigte sie sich immer vor Arzt und Hebamme [ ...] Ich habe jetzt dreizehn Monate mit ihr gelebt und immer mehr meine Kühnheit gepriesen, die mich um sie werben ließ [ ...] habe sie aber noch nie [so] großartig in ihrer Echtheit und Güte gesehen, wie bei diesem schweren Anlaß, der doch keine Verstellung zuläßt«.

Aus Freud sprachen wieder einmal Bewunderung und (Ehr-)Furcht für die kontrollierte Stärke seiner Frau, die sich in dieser Situation als so »unhysterisch« erwiesen hatte. Er wird sich im weiteren Zusammenleben daran gewöhnen, daß Martha Freud die schnell wachsende Familie quasi lautlos um ihn herum organisierte, so daß er in seiner Arbeit nicht unnötig unterbrochen wurde und zum unumstrittenen Mittelpunkt der Familie werden konnte. 
Die ersten zehn Ehejahre waren durch eine schnell wachsende Familie und geringe Einkünfte gekennzeichnet. Neben seiner Arbeit als Nervenarzt, die der Familie die Existenzgrundlage schuf, hatte sich Freud wieder der Forschung zugewandt. Er arbeitete an den »Studien über Hysterie« und begann nach einer wissenschaftlichen Grundlage zu suchen, auf der seelische Konflikte darstellbar gemacht werden konnten. Freud arbeitete oft bis zu 18 Stunden am Tag, so daß auf Martha alle Familienpflichten lasteten. Sie war dafür verantwortlich, daß die Einkäufe erledigt wurden, die Mahlzeiten pünktlich auf den Tisch kamen, wie ihre Tochter Anna später sagte -- mit zwanghafter Regelmäßigkeit, sie wies die Dienstboten, die Amme, das Kindermädchen, die Gouvernante an. Sie unterhielt die Gäste -- später die Besucher und Kollegen Freuds. Martha Freud führte einen gutbürgerlichen Durchschnittshaushalt. 

Familienphase I - Mutterschaft und Krisen

Sie orientierte sich auch in der Frage der Kinderzahl an der Norm ihrer Zeit. Sie hatte sich nur drei Kinder gewünscht, 1893 waren es bereits fünf. Die Kinder wurden ausnahmslos nach Freuds Freunden und Mentoren bzw. deren Ehefrauen benannt. Über die im Hause des »aufgeklärten« Arztes und Sexualwissenschaftlers Freud praktizierte Empfängnisverhütung ist nichts direkt dokumentiert. Freud, der die neurotisierende Wirkung des Coitus interruptus bei seinen Patienten beiderlei Geschlechts festgestellt hatte, erwähnte -- in einem wissenschaftlichen Zusammenhang -- seinem Freund Wilhelm Fließ gegenüber die Unpraktibilität von Kondomen.

Nach der Geburt ihrer Tochter Sophie im Jahre 1893 nahm Martha die Sache selbst in die Hand. Sie führte die sicherste Form der Empfängnisverhütung ein: die Abstinenz. Daß das Gefühl »zunächst ein Jahr kein Kind zu erwarten«, sie wiederaufleben ließ, registierte auch Freud .

Marthas zunehmende Belastung durch die Kinder und ihre Krankheiten, Freuds Selbstbezogenheit, die ihren Höhepunkt in seiner Selbstanalyse fand, sein hohes Arbeitspensum, das ihn eigentlich nur zu den Mahlzeiten erscheinen ließ, sowie sein »exotisches« Forschungsgebiet, das (noch) nichts einbrachte, blieb nicht ohne Auswirkungen, die Anfang bis Mitte der 1890er Jahre möglicherweise zu einer gewissen Entfremdung zwischen den Eheleuten führte. Freud berichtete Fließ von Marthas Schreiblähmung, später kamen Magenbeschwerden und Migräneanfälle hinzu, offenbar Symptome ihrer Überlastung. Freud selbst litt unter Brustschmerzen und Herzstörungen, die er aber vor Martha verheimlichte. In jener Zeit hatte sich auch deutlich gezeigt: Martha war nicht seine Vertraute und schon gar nicht seine Gefährtin »auf seinem langen und einsamen Weg zur Psychoanalyse«. Hatte Freud mit seiner Frau anfangs noch seine Fälle besprochen, so zeigten sich nun die Grenzen der traditionellen Geschlechterrollen. Nicht, daß Martha intellektuell unfähig gewesen wäre, die Forschungen ihres Mannes zu verstehen, aber als bürgerliche Frau war sie auch streng gegenüber gewissen Abweichungen von der Norm. Zwar hatte sie einen »Rebellen« geheiratet, in erster Linie jedoch einen Arzt. Daß dieser sich nun daran machte, eine Revolution auszulösen, indem er die menschliche Sexualität, quasi »eine Art Pornographie«, zur Wissenschaft erhob und über Perversionen, Masturbation, Unlustsubstanz, Lustüberschuß, erogene Zonen arbeitete, um nur einige Begriffe zu nennen, die auch die Grundlage seiner Patientengespräche bildeten, könnte ihr befremdlich erschienen sein und sie in ihrem Entschluß bestärkt haben, sich aus seinem Arbeitsgebiet herauszuhalten und anderen den Bereich zu überlassen. Diese Entscheidung fällen, akzeptieren und offenbar problemlos danach handeln zu können, macht Martha Freuds Beitrag zur Entwicklung der Psychoanalyse deutlich. Sie trat bewußt in den Hintergrund, ohne die Integrität ihrer eigenen Persönlichkeit -- oder die der anderen zu verletzen.
Nach der Geburt der Tochter Anna im Jahre 1895, das auch als Geburtsjahr der Psychoanalyse gilt, verbesserten sich die wirtschaftlichen Verhältnisse. Freud konnte nun die Preise diktieren.
Wenige Monate später zog Marthas Schwester, Minna Bernays, zur Familie in die Berggasse 19. Sigmund Freud hatte sich von jeher mit seiner Schwägerin gut verstanden und von Anbeginn der Verlobungszeit auch mit ihr korrespondiert. Minna Bernays war nämlich die Verbündete des Paares gegen die strengen Gesetze der Emmeline Bernays gewesen. Sie war offenbar auch konfliktbereiter als Martha, jedenfalls hatte sie sich mit ihrer Mutter auseinandergesetzt, was Freud seiner Verlobten auch vorgehalten hatte. Daß Minna Bernays in die Berggasse zog, erwies sich für alle Beteiligten als vorteilhaft. 

Minna Bernays, die Schwester an ihrer Seite
Minna, die nach dem Tod ihres Verlobten unverheiratet geblieben war, bei ihrer Mutter gelebt und als Gouvernante gearbeitet hatte -- eine offenbar finanziell bedingte Notlösung -- hatte nun eine Perspektive und eine Familie. Martha Freud erhielt durch ihre Schwester Entlastung von den häuslichen Pflichten. Minna half nicht nur bei den Kindern, sie war auch eine gleichrangige Ansprechpartnerin. Darüber hinaus stärkte sie Marthas Position gegenüber Freuds besitzergreifender Mutter und seinen Schwestern, die jeden Sonntag zum Abendessen kamen. Minnas Fähigkeiten wie ihre Belesenheit, ihre Diskussionsfreudigkeit und ihre Epigramme fanden auch bei Gästen und Besuchern Anklang, so daß Martha in ihrer Rolle als Gastgeberin ebenfalls Unterstützung zuteil wurde. Minnas Eigenschaften kamen auch Freud zugute, insbesondere ihr Interesse für sein Arbeitsgebiet. Er schrieb später, daß während seiner einsamen und isolierten Phase nur sein Freund Fließ und seine Schwägerin Minna an ihn geglaubt hätten.
Mit zunehmender Berühmheit Sigmund Freuds, die stets auch von Anfeindungen begleitet gewesen war, entstand das Gerücht -- offenbar auch vor dem Hintergrund seines Forschungsgegenstandes -, Freud hätte ein Verhältnis mit seiner Schwägerin Minna, zumal er kurze Reisen mit ihr unternahm. Daß Martha für ihren Mann alles tat, ihn nahezu anbetete, war Ausdruck ihrer tiefen Wertschätzung für ihren Mann, aber Bestandteil der bürgerlichen Familienmoral, die jedoch eine so unkonventionelle Konstellation wie eine (offene) Ehe zu Dritt ausschloß. Martha hätte vermutlich ihre Schwester geopfert, um ihre Ehe zu retten. Minna blieb aber bis an ihr Lebensende ein Mitglied der Familie. Darüber hinaus standen sich die Schwestern sehr nahe. Anzeichen für Eifersucht zwischen ihnen sind in der Literatur nicht dokumentiert. Martha konnte offenbar auch akzeptieren, daß Minna einen leichteren Zugang zu Freuds Arbeitsgebiet hatte.
Und Freud selbst? Er fühlte sich zwar von »männlichen« Frauen angezogen, zu denen Minna wohl gehörte, jedoch eher intellektuell, weniger erotisch. Jones stellte sogar dar, daß Freud »ungewöhnlich monogam« und seiner Frau eine Zeitlang beinahe »hörig« gewesen sei. Anscheinend war er auf die Familienmutter Martha fixiert. Das zeigen seine Briefe, besonders die, die er ihr von seinen Reisen schrieb. 

Familienphase II: Freund und die Psychoanalyse
Sigmund Freud liebte seine Familie und hätte ohne sie nicht leben können. Gleichwohl war er ein Vater auf Distanz, von dem seine Kinder nicht viel sahen, ein Vater, der sich in den »Schonpark seiner wichtigen Arbeit« zurückzog. In den Sommerferien nahm er sich Zeit für die Familie, sammelte mit den Kindern Pilze und unternahm Wanderungen mit ihnen. Ehe sich Konflikte aufbauen konnten, war er jedoch schon wieder weg.
Dem fernen Vater stand eine undramatische Mutter gegenüber. Martha Freud versuchte auch in der Kindererziehung Konflikte und Katastrophen kleinzuhalten. Die Kinder empfanden ihr Umgehen mit ihren Bedürfnissen manchmal als rigide. Als ihr Sohn Martin sich auf der Schaukel den Kopf aufgeschlagen hatte, unterbrach sie ihre Näharbeit nur, um dem Kindermädchen Anweisung zu geben, den Arzt zu rufen, ohne Anzeichen von Schrecken -- oder Mitleid. Anna Freud beurteilte ihre Mutter als eine Frau, die keine Regeln achtete, sondern nach ihren eigenen lebte, wobei offen bleibt, ob ihr Urteil auch außerhäusliche Angelegenheiten betraf.

Viele Besucher waren von Martha Freud beeindruckt, wie die Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salome:
»Das habe ich auch an Frau Freud so bewundert, daß sie (...) das Ihrige erfüllt, immer bereit in Entschiedenheit und Hingabe, [ ...] weit entfernt von überheblicher Einmischung in des Mannes Aufgaben [ ...] Durch sie sind sicherlich die sechs Erziehungen sehr psychoanalysenfremd geblieben; doch ist das von Freuds Seite gewiß nicht bloß Gewährenlassen gewesen, sondern [ ... ] etwas gefiel ihm auch daran, sein Hauswesen in dieser Ferne von offenbaren Konfliktsituationen zu wissen; etwas daran gefiel ihm an seiner eigenen Frau, (...) ich bin nachdenklich über diese Dinge, bei denen wir 'frei' und 'familiengebunden' (...) falsch unterscheiden. Erst ein Gran 'Ungesundheit' stört gewöhnlich die [ ...] Harmonie der Freiheit und Sozialität. 

Die vielgerühmte harmonische Atmosphäre in der Freud-Familie war darauf zurückzuführen, daß die Eheleute im Alltag ihre Aufgabenbereiche voneinander getrennt hielten. Freud benutzte seine Familie nicht als psychoanalytisches Experimentierfeld. Martha Freud beschränkte sich darauf, die Rahmenbedingungen für seine Arbeit zu schaffen.
Der Beitrag Martha Freuds erscheint dabei wenig spektakulär und quasi selbstverständlich. In ihrer Persönlichkeit lag jedoch ein wichtiger Beitrag für das Gelingen der Ehe -- im Sinne von Jones' Einschätzung: »Sie besaß eine voll entwickelte, ausgeglichene Persönlichkeit, die das höchste Kompliment des Psychoanalytikers verdiente; sie war 'normal'«. Doch auch in der gut funktionierenden Freud-Familie kam es zu Problemen, zu denen auch Martha Freud beitrug. Sie hatte -- auch ein Ausdruck des »Normalen« -- ihre Lieblingskinder: Oliver und Sophie. Darauf reagierte besonders die jüngste Tochter Anna mit Protest, die sich als »Kleine« ohnehin oft zurückgesetzt fühlte. 

Einen Ausgleich zu ihren Familienpflichten fand Martha Freud in den Reisen, die sie Ende der 1890er Jahre mit Freud allein nach Italien unternahm. Später reiste sie zu ihren verheirateten Kindern nach Berlin und Hamburg oder besuchte Freuds Freunde und Anhänger/innen. Eine gewisse Entschädigung für ihre unermüdliche Arbeit im Dienste des Unternehmens Psychoanalyse fand sie in Freuds zunehmenden Ruhm, den sie ab 1902 als »Frau Professor« genoß. 

Freud, der schon als Verlobter Marthas Aufstiegsorientiertheit erkannt hatte, schrieb anläßlich der Feierlichkeiten zu seinem 70. Geburtstag: »Meine liebe Frau, die im Grunde sehr ehrgeizig ist, hat sich von allem sehr befriedigt gezeigt«, während er selbst und seine Tochter Anna die Anteilnahme der Öffentlichkeit als lästig und peinlich empfunden hatten. 
Die 1920er Jahre waren gekennzeichnet durch familiäre Katastrophen. Die in Hamburg verheiratete Lieblingstochter Sophie Halberstadt starb an Grippe. Martha Freud, die selbst eine langwierige Lungenentzündung durchgemacht hatte, erholte sich nach diesem Schicksalsschlag umso schwerer.

1923 wurde bei Freud Krebs diagnostiziert.Er mußte sich in den folgenden Jahren vielen Operationen unterziehen, litt unter starken Schmerzen und war auch mehr und mehr am Sprechen gehindert. Seine Tochter Anna, die Freud zur Analytikerin ausgebildet hatte, übernahm seine Pflege und überwachte eifersüchtig den direkten Zugang zu ihm, was zu Problemen mit ihrer Mutter führte. Martha Freud hatte ohnehin schon registriert, daß »in dem einst lieben Kind die Härte zum Vorschein« gekommen war. Ferner kritisierte sie, die als korrekte Bürgersfrau stets auf eine damenhaft dezente Erscheinung Wert legte, die Reformkleidung und die Frisur ihrer Tochter. Hintergrund für ihre Kritik an Anna dürfte über den Generationskonflikt hinaus ihre Befürchtung gewesen sein, überflüssig und von der Seite Freuds verdrängt zu werden.

Martha Freud nur als treusorgende Hausfrau und Gattin darzustellen, greift jedoch zu kurz. Ihre selbständige, klar urteilende, durchsetzungsfähige Persönlichkeit, die auch über die Konvention hinausgehen konnte, hat sie schon während ihrer Verlobungszeit gezeigt. Sie ist ihr in der Ehe nicht abhanden gekommen, vielmehr zeigte sie in politisch brisanten Situationen auch Zivilcourage.
Als im Wien der Jahrhundertwende Studenten verhaftet wurden, ermahnte das Kindermädchen Martin Freud, nicht hinzusehen, da die Verhafteten »Kriminelle« seien. Martha Freud widersprach dieser Ansicht, meinte vielmehr, daß jemand, der aus politischen Gründen verhaftet werde, sehr wohl ein nobler Charakter sein könne. Martha Freud zeigte sowohl ihr Herz für einen Rebellen als auch eine klare politische Orientierung.

Verfolgung und Emigration
Im März 1938, kurz nach der Annektion Österreichs, drangen Nazi-Schergen in die Wohnung der Familie Freud ein. In dieser prekären Situation bat Martha Freud den vor der Wohnungstür wachestehenden Posten, Platz zu nehmen, da es ihr unangenehm war, in ihrem Haus einen Fremden stehen zu sehen. Dadurch entstand eine Verlegenheit, die sich noch bestärkte, als sie vor den zwei Männern, die das Eßzimmer gestürmt hatten, ihr Haushaltsgeld mit den Worten auslegte: »Wollen die Herren sich nicht bedienen?« -- so als böte sie ihnen etwas zu essen an. 

Bei der zweiten Haussuchung überraschte Martha Freud einen SA-Mann beim Plündern ihres Wäscheschrankes. Sie wies ihn, ohne Angst zu zeigen, indigniert zurecht, beschwerte sich -- ganz die gute Hausfrau -- über sein schockierendes Benehmen im Hause einer Dame und befahl ihm, damit aufzuhören. Der Mann zog sich erschrocken zurück, und Martha Freud räumte ihre Sachen wieder ein.
Wenig später emigrierte die Familie nach London. Freud berichtete von dort: »Meine Frau ist gesund und siegreich geblieben«. Er fand ohnehin, daß sie sich von den drei weiblichen Hausgenossen am schnellsten angepaßt hatte, als sei sie 27 und nicht 77 Jahre alt.
Sigmund Freud erlag am 6. September 1939 seinem langjährigen Krebsleiden. Martha Freud verbrachte die Tage nun meist zurückgezogen auf ihrem Zimmer, las und knüpfte wieder an ihre Jugendzeit an. Sie schrieb Gedichte zu Familienereignissen und den jüdischen Feiertagen, die sie nun wieder beging. Während ihrer Ehe war die Religion von einer stärkeren Macht verdrängt worden. »Meine Mutter hat an meinen Vater geglaubt, nicht an die Psychoanalyse«, erinnerte sich Anna Freud.

Martha Freud hat die traditionelle Rolle der Ehefrau stets erfüllt und sie nicht in Frage gestellt. Rückblickend definierte sie ihr Leben an Freuds Seite als ein Privileg, sich in all diesen Jahren um »unser teures Oberhaupt« zu kümmern und von »ihm die Misere des Alltags fernzubalten«.
Am 2. November 1951 starb Martha Freud nach längerer Bettlägerigkeit im Alter von neunzig Jahren in ihrem Londoner Haus in 20, Maresfield Gardens. Ihr Tod wurde von der Öffentlichkeit kaum beachtet. Jones widmete ihr einen kurzen Nachruf im Internationalen Journal für Psychoanalyse.

Den Schluß des Lebensbildes der Martha Freud soll eine Episode über die beiden stickenden Schwestern aus Hamburg abrunden: »Eine Weile herrschte absolute Stille, die dann plötzlich nur durch zwei Worte unterbrochen wurde: meine Großmutter sagte zum Beispiel: Die Pappenheim. Dann nichts, nur weiter Stille, Tante Minna nickte ...«. Offenbar war Martha Freud über ihre berühmt gewordene Jugendfreundin stets auf dem Laufenden, Bertha Pappenheim, die ihre Religion nicht aufgegeben und Psychoanalytiker nicht mehr in ihrer Nähe geduldet hat. 

Astrid Louven

Literatur
Berthelsen, Detlef: Alltag bei Familie Freud, Die Erinnerungen der Paula Fichtl. Hamburg 1987
Freimark, Peter (1983/2): Juden in Hamburg. In: Freimark (1983/1), S. 59-80
Freud, Martin: Man and Father. New York 1958
Freud, Sigmund (1960): Briefe 1873-1939. Ausgewählt und hg. von Ernst L. Freud, Frankfurt/Main 1960
Freud, Sigmund: Brautbriefe, Briefe an Martha Bernays aus den Jahren 1882- 1886, hrsg. von Ernst L. Freud. Frankfurt/Main 1988
Freud, Sigmund: Lou Andreas-Salome, Briefwechsel, hrsg. von Ernst Pfeiffer. Frankfurt/Main 1966
Freud, Sigmund/Zweig, Arnold: Briefwechsel, hrsg. von Ernst L. Freud, Frankfurt/Main 1968
Freud, Sigmund: Aus den Anfängen der Psychoanalyse, Briefe an Wilhelm Fliess, Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887 -- 1902. Frankfurt/Main 1962
Freud, Sigmund/Pfister, Oskar: Briefe 1909 -1939, hrsg. Ernst L. Freud und Heinrich Meng. Frankfurt/Main 1963
Freud, W Ernest: Die Freuds und die Burlinghams in der Berggasse. Persönliche Erinnerungen, in: Sigmund Freud House Bulletin, Vol. 11 Nr. 1, Sommer 1987
Gay, Peter: Freud, Eine Biographie für unsere Zeit. Frankfurt/Main 1989
Jones, Ernest: Das Leben und Werk Sigmund Freuds, Band I, 1960; Band II -- III. Stuttgart 1962
Kaplan, Marion A.: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland. Hamburg 1981
Krohn (1974), Helga: Die Juden in Hamburg. Die politische, soziale und kulturelle Entwicklung einer jüdischen Großstadtgemeinde nach der Emanzipation 1848-1918, Hamburg 1974
Louven, Astrid: Die Juden in Wandsbek, Hamburg 1989
Peters, Uwe Henrik: Anna Freud. Ein Leben für das Kind. München 1979
Sachs, Hans: Freud, Meister und Freund. Frankfurt/ Berlin/Wien 1982
Salber, Wilhelm: Anna Freud. Reinbek b. Hamburg 1985
Schur, Max: Sigmund Freud. Leben und Sterben. Frankfurt/Main 1982
Young-Bruehl, Elisabeth: Anna Freud. London 1988
 

 

 

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